Das ist die Geschichte von Esther Yellin: Einer der größten und noch weitgehend unbekannten Pianistinnen unserer Zeit.
Sie lebt heute in Luzern (Schweiz).
Ihre außergewöhnliche Meisterschaft und ihr unvergleichlicher Unterricht ist jahrzehntelang nur uns, einer kleinen Gruppe von Schülern und Freunden vertraut gewesen.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes:
Im 2015 wurden Live-Aufnahmen der 60er, 70er und 80er Jahre wiederentdeckt.
Diese Tondokumente sind aufnahmetechnisch zwar mangelhaft – weil vor über 30 Jahren live aufgenommen, eher spontan erstellt und nicht editiert.
Hinter diesen Mängeln hört man jedoch bereits die Musikalität und die frühe Meisterschaft von Esther Yellin, die heute noch bedeutend fortgeschrittener ist.
Wir haben deshalb beschlossen, diese Webseite zu veröffentlichen.
Wir möchten diese herausragende Künstlerin, ihr Werk und ihr Leben vorstellen.
Die frühen Jahre: Überleben des Zweiten Weltkrieges
Esther Yellin ist 1940 in Kaunas, Litauen geboren; zehn Monate vor Beginn der Besatzung des Landes durch Nazi-Deutschland.
Ihr Onkel Chaim Yellin war ein Anführer der AKO, einer antifaschistischen Untergrundorganisation im Kaunaser Ghetto. Beide Elternteile von Esther Yellin waren ebenfalls Mitglieder und Kämpfer dieser Organisation.
Die AKO versuchte unter anderem, die rund 1.400 jüdischen Kinder zu retten, die im Kaunaser Ghetto in Not und ständiger Bedrohung lebten. Eines dieser Kinder war Esther Yellin.
Ihre Eltern hatten schließlich das seltene Glück, echte Helden zu finden, die willens und fähig waren, die kleine Esther vor den Nazis zu verstecken. In den ersten zwei Monaten nach der Flucht aus dem Ghetto wurde Esther Yellin im Haus von Sofija Čiurlioniene Kymantaitė, ihrer Tochter Danutė Čiurlionytė und ihrem Mann Vladys Zubovas versteckt. Es war die Familie des litauischen Malers, Komponisten und Schriftstellers Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875 – 1911).
Nach dieser Zeit halfen die Čiurlionis Familie und der Bischof Matulonis, Esther Yellin in einem Konvent in Čiobiškis zu verstecken und sicher bis zum Ende des Krieges durchzubringen.
Chaim Yellin wurde 1944 gefangen genommen und ermordet, als er 31 Jahre alt war. Die beiden Eltern von Esther Yellin konnten dagegen mit viel Glück überleben und schließlich ihre Tochter gemeinsam großziehen.
Der Weg zur Konzertpianistin mit Heinrich Neuhaus
Eine künstlerische Erziehung in der Sowjetunion der Nachkriegszeit war alles andere als einfach zu bekommen. Drei Jahre lang unterrichtete deshalb Esthers Mutter, Dweira Yellin-Kormanaite – selbst eine Pianistin – ihre Tochter in klassischer Klavierkunst.
Nach diesen ersten drei Jahren ließen ihre Eltern Yellin bei Jakov Ginsburg Unterricht nehmen; dem Bruder des damals legendären Pianisten Grigori Ginsburg.
Es wurde schnell klar, dass dieses kleine, sensible Mädchen ein echtes Wunderkind war:
Bereits mit 9 Jahren gab Esther Yellin ihr erstes Konzert mit dem Radio Symphony Orchestra von Vilnius.
Im Jahr 1956 – mit 15 – wurde Esther Yellin von Anaida Sumbatyan entdeckt; eine der renommiertesten Klavierlehrerinnen an der Zentralen Musikschule in Moskau. Zu den bedeutendsten Schülern von Anaida Sumbatyan gehörten Vladimir Ashkenazy, Vladimir Krainev und Oxana Yablonskaya. Noch als Jugendliche verliess Esther Yellin somit Litauen, um in der russischen Hauptstadt Klavierstunden zu nehmen.
Im Jahr 1958 gelang es Esther Yellin schliesslich, Teil der legendären Meisterklasse von Heinrich Neuhaus zu werden. Heinrich Neuhaus war einer der bedeutendsten Klavierpädagogen des 20. Jahrhunderts. Unter anderem unterrichtete er Sviatoslav Richter, Emil Gilels und Radu Lupu.
Heinrich Neuhaus ist außerdem der Autor von Die Kunst des Klavierspiels, das heute als Standardwerk gilt.
Der Unterricht bei Heinrich Neuhaus war brilliant und schonungslos zugleich. Der Name des Künstlers oder dessen Erfolge spielten keine Rolle. Nur die Musik. Virtuosität war völlig belanglos, wenn die künstlerische Qualität schwach war. Eine der bekanntesten Zitate von Neuhaus war:
“Man spielt nicht mit den Fingern Klavier, sondern mit Herz und Hirn!”
Auf YouTube haben wir eine Unterrichtsstunde vom 26. Februar 1962 gefunden, die Heinrich Neuhaus an Esther Yellin gab. In dieser Zeit schrieb man ihr Name noch als Esja Elinajte:
Nach 6 Jahren Studium hat Esther Yellin schließlich ihr Konzertdiplom dank Heinrich Neuhaus – und nach seinem Tod im Jahr 1964 – bei dessen Sohn Stanislav Neuhaus abgeschlossen. Dadurch bekam Sie eine Stelle als Solistin an der Litauischen Philharmonie.
Der Chopin Wettbewerb: Ein Star wird geboren.
Im Jahr 1965 nahm Esther Yellin am Chopin Wettbewerb in Warschau teil. Wie in unveröffentlichten Aufnahmen dieses Wettbewerbs zu hören ist, waren ihre Auftritte einzigartig. Die Gewinnerin dieses Jahrgangs war Martha Argerich.
Anders als ihre berühmten Kollegen hat Esther Yellin nie die Chance erhalten, Konzerte in westlichen Ländern zu geben. Sie hat nie die Erlaubnis bekommen, ins Ausland zu reisen. Aufführungen und Aufnahmen wurden strikt von sowjetischen Behörden kontrolliert.
Der positive Aspekt dieser restriktiven Politik war, dass sich Yellin ausschliesslich auf ihre künstlerische Tätigkeit konzentrieren konnte. Die Sorge um Finanzierung, das Marketing oder das Management ihrer Karriere war nicht nötig. Anzahl Konzerte und Orte wurden vorgegeben, organisiert und jegliche administrative Arbeit von offizieller Seite erledigt. So konnte sie sich ganz den künstlerischen Aspekten ihrer Tätigkeit widmen und ein bekannter Star in Litauen und später auch in Polen werden.
Die Emigration nach Israel im Jahr 1973
Die Auflockerung der sowietischen Politik in den frühen 1970er Jahren erlaubte Esther Yellin, im Jahr 1973 nach Israel zu emigrieren; direkt zu der Zeit, als der Jom-Kippur-Krieg ausbrach.
In Israel befreundete sie sich mit Menachem Meir, dem Sohn von Golda Meir, der damaligen Ministerpräsidentin Israels. Menachem Meir war ein talentierter Cellist und Direktor des Israel Music Conservatory in Tel-Aviv.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2014 war er mit Esther Yellin eng befreundet.
In Israel gab Esther Yellin viele Konzerte, füllte die Säle und wurde von der äußerst kritischen israelischen Presse hoch gelobt. Erstmals begann sie dann auch, am Israel Music Conservatory in Tel-Aviv junge Pianisten zu unterrichten.
Die Übersiedlung in die Schweiz
Als Esther Yellin schliesslich in den frühen 1980er Jahren in die Schweiz übersiedelte, fand sie sich in einer Welt wieder, in der es nicht reichte, eine außergewöhnliche Pianistin zu sein. Es brauchte Management, für das ihr Sinn und Möglichkeiten fehlten.
Sie fing an, darüber nachzudenken, wie sie andere mit dem, was sie von Heinrich Neuhaus gelernt hatte, inspirieren könnte. Mit Hilfe von Schweizer Sponsoren gelang es ihr, im Jahr 1991 die Heinrich Neuhaus Sitftung zu gründen.
Viele ihrer Schüler wurden Pianisten, Klavierlehrer, Komponisten, Philosophen und Unternehmer und sind heute fast überall auf der Welt verstreut. Wir Schüler wurden nicht nur inspiriert, sondern öfter auch herausgefordert durch die kompromisslose Tiefe und Großartigkeit von Esther Yellin’s Kunst.
Wir blieben Freunde. Seit 20 Jahren helfen wir, wo wir können.
Leider ist es uns Schülern nur selten gelungen, Aussenstehenden Esther Yellin’s Klavierkunst zu vermitteln. Ihr außergewöhnliches musikalisches Verständnis, ihre ständige Suche nach dem, was man – heute vielleicht etwas verdächtig formuliert – als „musikalische Wahrheit“ bezeichnen könnte, blieben jahrzehntelang im engen Kreis von Bekannten und Freunden verborgen.
2015: Die Entdeckung von Aufnahmen aus den Jahren 1958 – 1985
Im April 2015 änderte sich alles. Christian Graf, ehemaliger Schüler, Philosoph und Klavierlehrer verfasste das Buch „Das offene Geheimnis“ und veröffentlichte es mit dem Staccato-Verlag in Düsseldorf. In seinem Buch setzt sich Graf mit seinem eigenen, persönlichen Weg in die Welt der Musik auseinander, der durch seinen Unterricht bei Esther Yellin maßgeblich geprägt worden ist.
Während den Recherchen entdeckte Christian Graf eine ganze Reihe von Aufnahmen zwischen den Jahren 1958 und 1985: Yellin’s frühe Interpretationen von Werken der Komponisten Chopin, Haydn, Mozart, Schubert, Beethoven, Schumann und Debussy.
Für die meisten dieser Aufnahmen fehlen uns bis heute die Veröffentlichungsrechte.
Ende 2015 gelang es uns aber doch, die Rechte für die Veröffentlichung der Aufnahmen beim SRF Radio und Fernsehen zu erhalten. Es handelt sich dabei um eher spontane Radio-Aufnahmen, die im Jahr 1985, also vor über 30 Jahren in Basel entstanden sind.
Die technische Qualität dieser Aufnahmen entspricht nicht den Standards von heute. Es handelt sich um Live-Aufnahmen, die nicht editiert worden sind.
Und doch kann man aus diesen Tonspuren deutlich die künstlerische Tiefe und Originalität von Esther Yellins Spiel heraushören.
Die Aufnahmen geben das wieder, was uns Schülern jahrzehntelang gelehrt wurde: Jeder Ton hat eine Bedeutung und eine eigene Schönheit. Das Spiel mit der Zeit und den in der heutigen Konzert-Praxis unüblich langsamen Tempis sind eine Notwendigkeit, um die Größe dieser Werke zu begreifen.
Für uns Freunde von Esther Yellin bieten diese Aufnahmen jedenfalls die Möglichkeit, endlich auch neuen Schülern und Liebhabern klassischer Musik Yellin’s außergewöhnliche Kunst näher zu bringen.
Wir würden uns über Ihr Interesse, Ihre Meinung oder eine Kontaktaufnahme freuen!